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Man könnte meinen, einen Gesetzestext zu singen sei in etwa so spannend, wie aus dem Telefonbuch vorzulesen. Und in der Tat bieten Paragraphen für gewöhnlich nicht das, was man sich gemeinhin unter inspirierender Prosa vorstellt – ihr Zweck ist eben ein anderer. Kunst und Gesetze - wie geht das zusammen? Steht nicht die unmissverständliche Festlegung von Regeln und Grenzen der individuellen Freiheit und Veränderung in der Kunst radikal entgegen? Schon. Wie also zusammenbringen, was vom Naturell her so gegensätzlich erscheint? Eva Weis, Thomas Bierling und Peter Lehel machen es vor. Sie vertonen unter dem Titel ‘Recht harmonisch’ sämtliche 19 Artikel des Grundgesetzes plus Präambel und nehmen sich dabei sämtliche Freiheiten – musikalisch und interpretatorisch. Womit? Mit Recht! Und das funktioniert so:
Jedem einzelnen Artikel, vom der Unantastbarkeit der Menschenwürde über die Versammlungsfreiheit bis hin zum Petitionsrecht, widmen sich Weis, Bierling und Lehel in kurzen Stücken, die die Drei-Minuten-Marke nie überschreiten und stellen jeden Paragraphen in einen eigenen musikalischen Zusammenhang. Die Kompositionen sind, mit einer Ausnahme, allesamt für Klavier (Bierling), Stimme (Weis) und Saxofon (Lehel) ausgelegt und bewegen sich stilistisch im Grenzbereich zwischen Jazz, freier Improvisation und Neuer Musik. Auch auf (wenn auch nur sparsam eingesetzte) technische Effekte hat man nicht verzichtet, wo es der Musik zuträglich erscheint. Die Grundlagen traditioneller Funktionsharmonik sind hier schon längst verlassen und trotzdem kippt die Musik nie in überstrapazierende Atonalität sondern suggeriert hinter aller tonalen Offenheit immer noch zusammenhängende Strukturen.
Gegenstand der einzelnen Stücke ist niemals der gesamte Gesetzestext, sondern jeweils ausgewählte Worte, Kernphrasen oder Sätze, die den Komponisten Bierling und Weis besonders wichtig, hinterfragenswert oder vertonbar erschienen. Dabei ist es natürlich unvermeidlich, Stellung zu beziehen, denn durch die Betonung und Gewichtung einzelner Textstellen kommt selbstverständlich auch die eigene Haltung zum Gesetz zum Vorschein. Das ist aber durchaus so gewollt und wird nicht nur in Kauf genommen, sondern durch die musikalische Untermalung noch unterstrichen und bekräftigt. Trotzdem ist ‘Recht harmonisch’ kein Propagandawerkzeug oder musikalisches Flugblatt, sondern bietet neben extrem spannender und einfallsreicher Musik, ein Menge Denkanstöße und Raum zur freien Interpretation.
Die extrem wandlungsfähige Stimme von Eva Weis bildet den Kern der einzelnen Vertonungen. Zwischen reiner Textrezitation, Belcanto, Scat und Klangmalerei vermittelt sie vor allem die subjektive Atmosphäre der jeweiligen Textstellen. Dabei lässt sie sich aber auch eine gewisse Ironie nicht nehmen, die immer da zum Vorschein kommt, wo sie vertraute Gesangsmuster bis ins Extreme überzeichnet, wie etwa im jazzigen Artikel 11 oder im neoverbluesten Artikel 15.
Ein spannendes Projekt, in der Tat. Spannend in der Idee und in der Umsetzung sind die einzelnen Stücke ausgefallen, die nie zu langatmig oder ausschweifend geraten sind. Die vielen unterschiedlichen stilistischen Elemente generieren ein hohes Maß an musikalischer Vielfalt und wer sich mit dem Grundgesetz nicht so genau auskennt hat Glück gehabt, denn der gesamte Gesetzestext ist im Booklet abgedruckt, zusammen mit einem Grußwort von Hans-Jürgen Papier, dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Recht so!
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